#Heldenfutter
»Heute werden Jugendliche durch Internetvideos radikalisiert«
Ein Ex-Nazi erklärt, was Eltern bei Extremismus im Netz tun können
Erschienen am 16. Mai 2022 · Autorin Birte Frey
Ob Verschwörungserzählungen auf YouTube, vermeintlich harmlose Bilder über die »Heimat« auf Instagram oder rechtsradikale Inhalte in Videospielen — Extremist*innen finden immer mehr Wege, ihre menschenverachtenden Inhalte online zu verbreiten.
Durch die Pandemie hat sich dieser Trend noch verstärkt. Dabei sind die verwendeten Methoden von insbesondere rechten Gruppen nicht immer gleich offensichtlich.
Vor allem Jugendliche fühlen sich von vielen zunächst harmlos erscheinenden Angeboten angesprochen und können problematische Inhalte nicht als solche erkennen.
Philip Schlaffer war selbst lange Mitglied der rechten Szene. Nach 20 Jahren suchte er sich Hilfe und fand schließlich den Ausstieg. Heute ist er Anti-Gewalt- und Deradikalisierungstrainer bei Exremislos e.V und erzählt auf seinem YouTube-Kanal über seine Zeit als Nazi und seinen Ausweg.
»Für jeden, der im Internet was sucht, bietet die rechtsradikale Szene heute eine Möglichkeit.«
Philip Schlaffer, Deradikalisierungstrainer
Rechtsextremist*innen nutzen das Internet für ihre Zwecke
Es gibt Webseiten und Social Media Accounts, die ganz offen rechts sind und sich an Menschen richten, die sich in der rechten Szene bewegen oder sich dafür interessieren. Medienpädagogin Romina Nölp, die bei den Digitalen Helden den Projektbereich Digitaler Notfall leitet, sagt:
Schauen sich Nutzer*innen dann einige solcher Musikvideos an, legt der Algorithmus immer nach und bietet mehr und häufig immer krassere Inhalte. Der Automatismus der Plattform registriert dabei gar nicht, was er hier an Inhalten präsentiert, er merkt nur, dass die Konsument*innen immer länger dran bleiben — und das ist aus Sicht der Plattformbetreiber gut. Denn wer länger verweilt, dem kann auch mehr Werbung eingeblendet werden.
Neben klar erkennbaren rechtsradikalen Inhalten, gibt es auch welche, die Leute für die rechte Sache begeistern sollen.
Was ihm wichtig ist, Eltern und Pädagog*innen mitzugeben: »Diese Arbeit, die Rechtsradikale heute online machen, ist vor allem emotionaler Art. Da gibt es Influencer*innen, also Menschen die durch ihre Social Media Accounts berühmt geworden sind, auf Instagram, die sehen so nett und sympathisch aus, machen aber keine Schmink-Tutorials oder jedenfalls nicht nur, sondern reden über Heimat und darüber, dass sie Angst haben rauszugehen, weil sie dort auf Ausländer treffen. Die meisten jungen Leute werden heute also nicht über politische Aussagen geködert, sondern ganz emotional. Die rechtsradikalen Influencer*innen bauen eine Bindung zu ihnen auf.«
Mobile Game zum Einsatz im Unterricht
Das Mobile Game Hidden Codes von der Bildungsstätte Anne Frank zeigt Beispiele für Recruiting-Strategien von Rechten und Islamist*innen im digitalen Zeitalter. Das Game ist hier hidden-codes.de zu finden.
Diese Bindung entsteht durch private Einblicke, die die Influencer*innen online in ihr Leben geben. Sie teilen witzige Reels, also Kurzvideos, oder erzählen in ihrer Story von Sorgen und Ängsten. Schlaffer sagt: » Und wenn die Influencerin dann eben auch mal eine Story zu Corona oder zum Krieg in der Ukraine macht und da eine rechtere Position vertritt, ist oft gar nicht so leicht zu erkennen, ob wir es hier mit Gegenrede oder rechtsradikalen Aussagen zu tun haben.« Laut Schlaffer gibt es in der rechtsradikalen Social-Media-Szene Identifikationsfiguren für jeden Geschmack. Vom sehr männlichen Ex-Polizisten mit Vorliebe für Rock, bis hin zur heimatliebenden Beauty Vloggerin ist alles dabei.
Wie funktioniert Radikalisierung?
Ein großes Problem ist, dass rechtsradikale Inhalte auf Plattformen oft nicht gelöscht werden und sie tun so witzig und unschuldig, dass schon 13-Jährige sie lustig finden, weil sie die politische Dimension dahinter gar nicht verstehen. Auch ich habe einen 12-jährigen Sohn zu Hause und tue mich schwer damit, dass ihm online solche Sachen begegnen«, berichtet Schlaffer von seinen Erfahrungen.
»Ich selber habe meine eigene Radikalisierung erst sehr spät gemerkt.«
Philip Schlaffer, Deradikalisierungstrainer
»Bei der Radikalisierung gibt es eine Phase, wo man noch Zugang zu einem Jugendlichen bekommen kann. Wenn er sich anfängt für rechtsradikale Inhalte zu interessieren, egal ob Musik oder Videos, das Weltbild aber noch nicht geschlossen, sondern noch ganz oberflächlich ist.«
Philip Schlaffer, Deradikalisierungstrainer
Was können Eltern gegen diese Radikalisierung tun?
»Wenn Kinder und junge Leute ernst genommen werden, Wertschätzung, Anerkennung und Liebe erfahren und zuhause eine Perspektive aufgezeigt bekommen, sind sie nicht so anfällig für Extremismus«, sagt Schlaffer. Und gibt Eltern den Rat, auf Kleinigkeiten zu achten, zum Beispiel welche Musik ihre Kinder hören. Daran hätten auch seine Eltern die Radikalisierung ihres Sohnes sehr früh erkennen können.
Für ihn war das Aufdrehen der Musik ein Schrei nach Hilfe. Hört her! So geht es mir. So fühle ich mich. Aber anstatt darauf einzugehen, haben seine Eltern nur zurückgeschrien, dass er die Musik leiser stellen soll. Rückblickend sagt Schlaffer: »Die Achtsamkeit fehlte für diese ersten Veränderungen und ein Gespräch darüber auf Augenhöhe.« Dabei wäre genau das noch der Zeitpunkt gewesen, an dem seine Eltern Philip noch hätten erreichen können. »Bei der Radikalisierung gibt es eine Phase, wo man noch Zugang zu einem Jugendlichen bekommen kann. Wenn er sich anfängt für rechtsradikale Inhalte zu interessieren, egal ob Musik oder Videos, das Weltbild aber noch nicht geschlossen, sondern noch ganz oberflächlich ist«, erklärt Schlaffer.
- Bericht zu Rechtsextremismus im Netz, aktuell für die Jahre 2020 und 2021, von jugendschutz.net, als PDF hier t1p.de/jbfgw zum Download.
- Sehr lesenswerte Recherche Kein Filter für Rechts: Wie die rechte Szene Instagram benutzt, um junge Menschen zu rekrutieren, von correctiv.org t1p.de/rrms
Dieses Zeitfenster kann Monate oder sogar Jahre dauern. Wichtig ist laut Experten, dass man als Eltern oder Pädaog*innen die eigenen Befindlichkeiten außen vorlässt, den Jugendlichen und seine neuen Ansichten nicht gleich verurteilt, sondern ihnen zuhört —und wenn man merkt, dass man keinen Zugang bekommt, es noch mal jemand anderen versuchen lässt.
Das bestätigt auch Medienpädagogin Romina Nölp: »Wenn Sie merken, dass Sie selbst nicht mehr an den Jugendlichen rankommen, dann holen Sie sich Hilfe. Wenden Sie sich beispielsweise an die Organisationen Extremislos e.V. oder die Rote Linie.«
Warnsignale für Eltern und Pädagog*innen
Diese Zugangsmöglichkeit ändert sich irgendwann, und zwar, wenn die Jugendlichen sich als Teil einer Gruppe fühlen. »Ab dem Punkt, wo Leute nicht mehr nur Inhalte allein für sich konsumieren, sondern sich in Gruppen, zum Beispiel Telegram-Gruppen, bewegen, wird es schwer. Dabei ist es egal, ob die Jugendlichen sich auf dem Bolzplatz treffen und Rechtsrock hören, wie ich früher oder ob sie sich über eine WhatsApp-Gruppe vernetzen und Bildchen austauschen. Sie bekommen dort Anerkennung, fühlen sich zugehörig, also genau das, wonach man sich als junger Mensch eben sehnt.
Warnsignale sind für Eltern und Pädagog*innen außerdem, wenn die Jugendlichen ständig pauschalisieren, bestimmten Gruppen die Schuld zuweisen, den Holocaust relativieren. Wenn ihr Kind beim Abendbrot alles politisiert und Feindbilder aufbaut, sollten Sie mal checken, was Ihr Kind da so am Handy konsumiert, um einen Einblick zu bekommen«, sagt Schlaffer.
Videospiel zum Einsatz im Unterricht
Im Videospiel Loulu vom Hebbel-Theater Berlin lernen Nutzer*innen mehr über Anwerbestrategien Rechtsradikaler auf Social Media. Zum Spiel gelangen Sie über diesen t1p.de/qe6ia Link.
Das Problem ist, Extremismus funktioniert — jedenfalls für eine kurze Zeit
Extremismus bietet uns Anerkennung und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Extremismus funktioniert aber nur kurzfristig. »Ich war irgendwann auch enttäuscht von vielen Dingen in der Szene, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon mein ganzes Leben darauf aufgebaut rechts zu sein, habe zum Beispiel mit rechter Musik mein Geld verdient,« erzählt Schlaffer. Erst nach 20 Jahren hat Philip Schlaffer den Ausstieg geschafft. Er hatte einen Extremismus-Burnout, wie er es nennt, hatte die Szene leid, war eine Zeit lang dann noch in der organisierten Kriminalität in Rockerclubs tätig und erst als er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde und im Gefängnis saß, schaffte er den Ausstieg. Fünf Jahre dauerte der Hauptteil des Deradikalisierungsprozesses, begleitet von Social-Media-Detox. Schlaffer hatte sich von allen Freund*innen abgewendet und ist umgezogen, hat neue Social Media Accounts aufgemacht, ohne die alten Kontakte, sodass auch die Algorithmen der Social-Media-Plattformen nichts von seinem früheren Leben wussten und ihm keine rechten Inhalte mehr vorgeschlagen haben. Selbst jetzt nach acht Jahren sieht er seine Deradikalisierung nicht als abgeschlossen an.
Wie können Eltern beim Ausstieg helfen?
Laut Schlaffer sind Eltern fast das Wichtigste beim Ausstieg. Schlaffer sagt: »In unserem Rechtsstaat ist die zweite Chance verankert. Wenn du deine Strafe abgesessen hast, darfst du zurück in die Freiheit. Und auch Familien können so eine zweite Chance geben: Du darfst als Mensch zurückkommen, unsere Tür ist offen.«
Wer noch mehr von Philip Schlaffer erfahren möchte, kann sich gerne unsere Webinar-Aufzeichnung Radikalisierung im Netz anschauen. Dort erzählt er unter anderem davon, warum er im Gefängnis seinen Spiegel abhängen musste, und beantwortet zusammen mit unserer Medienpädagogin Romina Nölp Fragen von Eltern und Pädagog*innen zur Radikalisierung von Jugendlichen im Internet.
Ihre Autorin
Birte Frey
Verantwortungsbereich bei den Digitalen Helden
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